Kippt der schiefe Turm?


Und ewig kippt der Turm ...

Kippt etwa der schiefe Turm von Pisa? Die Berühmtheit? Das 8. Weltwunder?? Ja, bzw. nein. Er kippt, aber langsam. Noch nicht endgültig. Aber vielleicht bald? Man weiß ja nie! Also nichts wie hin, oder?

Was bisher geschah:

Vor 840 Jahren waren Kirche und Staat zu dem Entschluss gekommen, das Ensemble des Doms und der Taufkirche mit einem rund hundert Meter hohen Glockenturm zu krönen. Leider hat man - typisch! - eine ordentliche Bau­grund­untersuchung nach DIN 4020 unterlassen. Das Ergebnis dieser Schluderei zeigte sich schon so um den 3. Stock herum: Das Bauwerk begann auf einer Seite einzusinken.

Hundertjähriger Baustopp

Pech! Denn der Turm, so weiß man heute, steht direkt neben einem antiken versandeten Hafen­becken – Pisa lag früher wesentlich näher am Meer – auf einer ehemaligen Insel. Nicht gerade der geeignete Platz für hohe und schwere Bauwerke. Also trat das ein, was bei Großprojekten dieser Art (Flughäfen, unterirdische Bahnhöfe, Philharmo­nieen) immer eintritt: Verzögerung. Im Fall des Schiefen Turms dauerte sie märchenhafte 100 Jahre.

So viel Zeit hatten also das Fundament, sich richtig zu setzen und die Bauleute, sich Gedanken zu machen. Dann wurde aber zügig weitergebaut. Und zwar senkrecht nach oben, und nicht schräg, wie die ersten drei Stockwerke schon waren. Deshalb ist der Schiefe Turm vor allem auch ein krummer Turm, bis heute.

Vorzeitiges Ende in 55 Meter Höhe

Schon bald zeigte sich die alte Krankheit: der Turm behielt seine unheilvolle Neigung zur Neigung. Was tun? Da die Basis nun schon einmal vermurkst war, behalfen sich die Bauleute mit den üblichen Tricks: Die der Neigung zugewandte Seite wurde einfach etwas leichter, mit dünneren Wänden und Decken, gebaut. Vielleicht hat es sogar etwas geholfen, aber nicht genug: Die Schräglage nahm zu.

Deshalb wurde bei 55 Metern endgültig Schluss gemacht: Rund 200 Jahre nach Baubeginn erhielt der Turm seine bis heute zu bewundernde Gestalt, nicht aber die finale Neigung: denn das langsame Kippen blieb. Die Bewohner des Castellls Greppo­lungo und die Bauern, die die angrenzenden Olivenhaine bewirtschafteten, konnten es live mitverfolgen, wenn sie gute Augen hatten. Genau wie heute die Feriengäste im Toskana-Ferienhaus Casa Berti, etwas Geduld vorausgesetzt...

Der langsame Fall des Campanile

Seit dem Jahr 1911 wird gemessen, wie schnell der Turm kippt. Es sind im Durchschnitt 1,2 mm pro Jahr. In diesem Tempo hätte der Turm noch fast 2.000 Jahre stehen bleiben können, denn der Schwerpunkt lag noch mehr als 2 Meter innerhalb des Fundamentringes. Aber, wie der Dichter sagt: "Alles was befürchtet wird, wird wahr!" Befürchtet wurde, dass es nicht bei den besagten 1,2 mm bleiben würde.

Senkrechte Türme sind out

Zu befürchten war aber auch, dass ein vielleicht halbwegs senkrechter Turm eine schwere wirtschaftliche Schädigung des Gemeinwesens Pisas darstellen könnte. Deshalb wurde stets von einer Stabilisierung gesprochen. Alles andere ist sehr italienisch: Es gab Kommissionen, die sich nicht einigen konnten, die ein-, ab- und wieder eingesetzt wurden, mit radikalen Außenseiter­meinungen und fatalistischem "soll er doch umfallen". Aus früherer Zeit wusste man aber, dass jedes Mal, wenn man versucht hatte, das Kippen des Turms aufzuhalten, er noch etwas schneller gekippt ist.

Zwölf Jahre ohne Turmbesteigung

Erst mal wurde der Turm Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts für die rund 700.000 Touristen, die ihn Jahr für Jahr für teuer Geld bestiegen hatten, gesperrt. Dann wurde ein hoher Bauzaun errichtet, und dahinter eine unglaubliche Menge an Bleibarren auf der höher stehenden Seite des Fundaments aufgeschichtet. Es gab auch kleine Erfolge, aber richtig groß wurden diese erst, als im Jahr 2001 mit Hilfe von Bohrungen einseitig Erdreich unter dem Turm entfernt wurde. Das Fundament sackte ab und der Turm richtete sich auf: um sagenhafte 44 cm (an der Spitze des Turmes). Das sind fast 400 Jahre, auf Basis der 1,2 mm pro Jahr gerechnet.

Eigene Fallversuche untersagt

Seither dürfen auch Touristen wieder auf den Turm. Aber es ist nicht mehr das gleiche wie früher: Da kaufte man sich ein Ticket und schritt munter und abenteuerlustig zur Turmbesteigung. Heute werden die Touristen in Gruppen zusammengefasst und haben den Turm in festgesetzten 30 Minuten zu bestaunen. Auch gab es in den 80ern noch nicht so viele Sicherheitsmaßnahmen. Man konnte nämlich auf jede der Galerien hinaustreten. Bei der herrschenden Schräglage und angesichts des bei feuchtem Wetter stets glitschigen Marmors ist es schon ein Wunder, dass nicht täglich Leute abgestürzt sind. Denn ein Geländer gab es – schon aus Denkmalschutzgründen – nicht. Mir haben jedenfalls verschiedene Menschen von ihren prospektiv tödlichen Beinah-Unfällen auf dem Schiefen Turm berichtet. Aber diese schöne Zeit ist verklungen, die Galerien sind versperrt, und wenn man aus 50 Meter Höhe abstürzt, muss man es schon selbst wollen. Es kommt vor, aber zum Glück nur selten, zuletzt im Jahr 2011. Die meisten Menschen, die sich umbringen wollen, sind nicht besonders eitel.

Den Dom bitte nicht vergessen

Übrigens, eines soll man sich vergegenwärtigen. Der Schiefe Turm ist vor allem ein Campanile, ein Glockenturm für das daneben stehende Gemäuer. Und das ist der Dom. Eine Besichtigung des Doms lohnt sich unter kulturellen Gesichtspunkten deutlich mehr als das Besteigen einer alten Bausünde. Auch, wenn sie viel bekannter ist.